Roman Sandgruber

Wittgenstein und Rothschild - Die zwei bekanntesten und reichsten Familien der Habsburgermonarchie im Jahr 1910

Im Jahr 1910 gab es in Wien und Niederösterreich, damals zusammen ein Kronland, 929 Personen, die ein Jahreseinkommen von mehr als 100000 Kronen versteuerten. Sie bezahlten dafür weniger als 5 Prozent an Einkommenssteuer. Eine Person ragt dabei heraus: Albert Frh. v. Rothschild. Er als Einzelperson versteuerte 1910 ein Jahreseinkommen von 25,6 Mio. Kronen. Das ist mehr als fünfmal so viel wie die nächsten im Ranking. Aber ein Familienverband ragt heraus: Insgesamt elf Mitglieder der Familie Wittgenstein sind unter den 929 Spitzenverdienern zu finden, auch wenn sie es zusammen gerechnet nur auf ein Jahreseinkommen von etwa fünf Mio. Kronen brachten, damit zusammen nur knapp mehr als der allmächtige Bankenpräsident Theodor Ritter von Taussig oder der Kohlen- und Eisenindustrielle Maximilian Ritter v. Gutmann oder der Großindustrielle Gustav Frh. v. Springer.  Rothschild war ein Monolith, er stand ganz allein. Die Wittgenstein waren ein Familiennetzwerk mit höchst unterschiedlichen Sozialprofilen: Karl Wittgenstein (1847–1913, im Jahr 1910 1.349.750 Kronen Jahreseinkommen) und seine beiden Brüder Paul (1842–1928, 140.180 K) und Ludwig (1845–1925, 687.055 K), seine Schwestern bzw. deren Ehemänner Klara (1850–1935, 194.040 K), Emilie „Milly“, verh. Brücke (1853–1939, 122.414 K), Hermine Fanny Josephine, verh. Oser  (1844–1933, 113.664 K), Lydia, verh. Siebert (1851–1920, 115.038 K) und Bertha, verh. Kupelwieser (1848- 1909, 728.902 K), dazu drei selbständig versteuernde Kinder von Karl Wittgenstein: Helene Gabriele, genannt Lenka, verh. Salzer (1879-1956, 315.429 K),  Paul (1887-1961/ 251.522 K), der „einarmige“ Pianist und der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951, 237.308 K).

Die beiden Zentralfiguren 1910, Karl Wittgenstein, der Vater des berühmten Philosophen, und Albert Rothschild, der mächtige Bankier, waren beide keine Montanisten, nicht einmal Industrielle. Sie waren Kapitalisten, die die bedeutendsten Hüttenkonzerne des Reichs beherrschten und das mächtige Eisenkartell dirigierten. Albert Rothschild war ein wenn auch wenig gläubiger Jude geblieben, bei den Wittgensteins vereinigten sich in der großen Familie fünf verschiedene Bekenntnisse: jüdisch, katholisch, evangelisch AB, evangelisch HC und zuletzt auch ohne Bekenntnis. Die Rothschilds waren jüdisch, aber in den Adel aufgestiegen, die Wittgensteins waren konvertiert, verweigerten aber jeden Adelstitel. Wittgenstein förderte moderne Maler, heimische Architekten und progressive Musiker, die Rothschilds kauften alte Meister, liebten leichte Musik und holten die Architekten aus Frankreich etc.

Untersucht werden in dem Vortrag die höchst unterschiedlichen Sozialprofile, Verhaltensweisen und Schicksale dieser elf Angehörigen der Wittgenstein-Familie, vor allem aber auch der scharfe Kontrast zur Familie Rothschild, bei der sich im Jahr 1910 alles auf eine einzige Person konzentrierte: auf Albert, den im Jahr 1910 nach allgemeiner Meinung und auch nach den statistischen Daten als reichster Mann Europas galt.

Roman Sandgruber, em.o.Univ.Prof., Studium der Geschichte, Germanistik und Volkswirtschaftslehre; 1988 bis 2015 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz; Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Jüngste Buchveröffentlichungen: Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Wien 2013; Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses, Wien 2018; Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde, Wien 2021.